Der Schimmelreiter Kritiken WILHELMSHAVENER ZEITUNG vom 21. Juli 1997 Wunder: Ein regenloser Premierenabend VON BARBARA SCHWARZ In ganz Deutschland fällt an diesem 19. Juli 1997 das Wasser tonnenweise vom Himmel. Nur ganz oben im Nordwesten, in einem netten preußisch-ostfriesischen Städtchen, hoffen die Menschen selbst nach dem dicken Gewitter um die Mittagszeit noch auf ein Wunder. Und siehe da - Wotan hat ein Einsehen, stellt Blitz und Donner ein, schließt die Himmelsschleusen. Der Donnergott verschont die verschworene kleine Theatergemeinde, die sich zu abendlich-nächtlicher Stunde am Rosenhügel zusammenfindet, um Norberto Prestas "Schimmelreiter" aus der Taufe zu heben. Ein regenloser Premierenabend bei Temperaturen von 18 bis 19 Grad. Das war schon ein Wunder. Allerdings so ziemlich auch das einzige an diesem Abend, sieht man einmal davon ab, daß das Geschehen - sprich die Inszenierung - nahezu reibungslos über die grüne, große, ovale Freilichtbühne lief. Mit Theodor Storms "Schimmelreiter", dieser wunderbaren Novelle, hat dieses Auftragswerk der Landesbühne nur das dürre Handlungsgerüst und die Figuren gemeinsam. Ansonsten fragt man sich, an wen sich die Landesbühne mit dieser simplen Mischung aus Musical, Groteske und naturalistischem Volkstheater eigentlich wendet. Am ehesten kann man diesen "Schimmelreiter" noch Familien mit Kindern empfehlen, mit dem gleichzeitigen Ratschlag, Storms Novelle jetzt in den großen Ferien gemeinsam zu lesen. So könnten die Kinder einen Eindruck von der literarischen Qualität der Vorlage gewinnen. Die Landesbühne hat vor zwei Jahren mit "Mephisto", der Adaption von Goethes "Urfaust", einen künstlerischen Maßstab für Freilichttheater gesetzt, den sie im letzten Jahr mit Tankred Dorsts "Merlin" zu übertreffen versuchte. Einen Maßstab, den sie jetzt aber offensichtlich nicht mehr anlegte. Mit knapp zwei Spielstunden ist der Abend zwar kurz, aber keineswegs kurzweilig, sondern eher spannungslos. Daran ändert auch die Musik nichts, die Erich Radke diesmal zwischen Choral, Volksmusik, Weill und KIagegesang des Orffschen Schwans ansiedelt. Mit diesem "Schimmelreiter" hat sich die Landesbühne trotz aller Mühen der Beteiligten, von Georg Immelmann als Regisseur bis hin zu den mehr als 30 Laiendarstellern, vergaloppiert. Symptomatisch: Die sprechende Möwe KIara (Constanze Weinig), die als Nebenfigur durchs ganze Stück hüpft, bekam am Ende den meisten Beifall. Obwohl Albrecht C. Dennhardt als Schulmeister und stummer Engel des Todes ebenso beeindruckt, wie Suna Baldinger als Elke, Beate Ehlers als Trin Jans oder Hagen Tietze besonders als junger Hauke Haien. Dem Spiel fehlen neben Spannung trotz mancher schön inszenierter Massenszenen (Deichbau), Tänze (Choreographie Susanne Mittmann) und des originellen Schimmels auch die großen Bilder. An eine Winterfassung für den Abendspielplan mag man nach vorliegendem Ergebnis gar nicht denken. Allenfalls an eine Vorstellung für Kinder bis zwölf Jahre. Will die Landesbühne nicht die vielen jugendlichen Zuschauer, die sie gewann, wieder verlieren, sollte sie schnell und gründlich umdenken. Auch wenn's am Sonnabend - das sei nicht verschwiegen - durchaus freundlichen Beifall gab. JEVERSCHES WOCHENBLATT vom 22. Juli 1997 Dramatik schluckt die Groteske VON ERNST RICHTER Wilhelmshaven. Wolken ziehen über den Stadtpark. Möwengeschrei und Meeresrauschen stimmen das Premierenpublikum der Uraufführung ein: Der "Schimmelreiter" nach der gleichnamigen Theodor-Storm-Novelle steht auf dem Programm dieser Freilichtinszenierung. Es waren vor der Aufführung Befürchtungen laut geworden, daß in diesem grotesken Spie1 nicht viel von dem eigentlichen Gehalt der Novelle übrig bleiben werde. Weit gefehlt. Schon die ersten Szenen fesseln das Publikum. Die vorhandenen Situationen werden von der spannend aufbereiteten Dramatik der Handlung gleichsam aufgesogen. Was macht es schon, wenn der Kater spricht und die Möwe Klara behend auf der Spielfläche herumtummelt und sogar fliegen kann. Die seitwärts postierte Hebebühne befördert die menschliche Möwe in die Lüfte, dort nach oben, wo wie bestellt auch echte Möwen umherkreisen. Theodor Storm schrieb 57 Novellen. Der "Schimmelreiter" war seine letzte. Am 4. Juli starb er in Hademarschen. Die Handlung um den modern denkenden und handelnden Deichgrafen Hauke Haien, der sich schließlich auf seinem Schimmel in die aufbrausende Naturgewalt, das Meer, stürzt, nachdem bereits seine Frau Elke mit Tochter Wienke in der großen Flut ertrunken ist, ist bis zum heutigen Tag aktuell geblieben. Nur die Vorzeichen haben sich geändert. Damals mußten alle Dorfbewohner beim Deichbau zupacken: "Well nich will dieken, de mutt wieken", hieß die Parole. Der Kampf der Deichgrafen mit oder gegen das Volk wird plastisch in der Deichbauszene dargestellt. Ein Kunstwerk. Das zweistündige Spiel wird mit viel Musik, mit Songs und Liedern bereichert, musikalisch eingerichtet von Erich Radke. Ein bißchen Musical, ein bißchen Singspiel, vor allem, wenn der Chor des Volkes in Aktion tritt. Die Handlung verteilt sich auf verschiedene Spielpunkte: Drüben die Hütte der alten Trin Jans, trefflich mysteriös verkörpert von Beate Ehlers. Vor der Zuschauertribüne befindet sich das ebenfalls nur angedeutete Haus des Deichgrafen, Von dort aus führen die Wege an den Deich, den Rosenhügel. Die Handlung hält sich recht genau an die Textvorlage der Stormnovelle. Albrecht C. Dennhardt spielt den Schulmeister, der als Erzähler die Fäden dieser tragischen Geschichte für das Publikum verbindet und tritt auch als dunkler Engel des Todes in Erscheinung. Im Blickpunkt des Geschehens stehen Hagen Tietze als Hauke Haien und Suna Baldinger als Elke Volkerts, Tochter des Deichgrafen Tede Volkerts, der von Oskar Matull mit Spielwitz dargestellt wird. Den Kater und die Möwe Klara spielt flott aufgedreht Constanze Weinig. Die aufglimmende Liebesbeziehung zwischen Elke und Hauke wird von beiden sehr einfühlsam dargestellt, um dann nach harten Schicksalsschlägen in Angst, Sorgen und Not zu enden. Johannes Simons gefällt in der Rolle des sterbenden Tede Haien und als Fischer Iven. Das weiße Pferd wird von Torsten Könnecke zum Leben erweckt. Doch nein, zur Lachnummer wird diese Konstruktion nicht. Im Text der Novelle wird das Gerippe eines Pferdes erwähnt. Niemand weiß, wie das weißgebleichte Knochengerüst nahe der Hallig versandete. Realität, Mystik, Aberglaube, Teufelsspiel und Gottesfürchtigkeit treiben hier ein imaginäres Spiel zur Naturgewalt. Theodor Storm sagte über sich: "Ich bin kein Dichter der 'Gartenlaube' ; meine Novellistik hat meine Lyrik völlig verschluckt". Auch diese Uraufführung ist nicht für die Gartenlaube inszeniert. In den weiteren Rollen spielen Jörg Bitterich als Großknecht Ole Peters, Rolf-Peter Lauxtermann als Oberdeichgraf, Andreas Lütje als Pastor und Karl Zacher als ein Bevollmächtigter. Enrico Liebig schlüpft in die Rolle eines Hundes und Kirsten Patent spielt die Tochter Wienke des Deichgrafens. Dazu kommen weitere 30 Personen als Komparsen. |