Straßenkids

Projekt von Frank Fuhrmann

Regie: Frank Fuhrmann
Premiere: 10.07.98 auf dem Valoisplatz in Wilhelmshaven


Kritiken

WILHELMSHAVENER ZEITUNG vom 13. Juli 1998

Trommeln in der Nacht fesseln das Publikum auch bei Regen

Verstörendes Jugendtheater auf dem Valoisplatz: Straßenkids

Von Martin Wein

So ist das, wenn man kein Dach über dem Kopf hat, wenn die rauhe Welt der Straße das Zuhause ersetzt. Nicht nur die barsche Kälte der Mitmenschen führt zu Erfrierungen in der Seele, auch die schlichten Unbilden des Wetters machen das Überleben zu einer klammen Vorhölle.

Insofern war der stete Regen zur Premiere von „Straßenkids", dem anspruchsvollen Projekt des Jugendclubs der Landesbühne um den Theaterpädagogen Frank Fuhrmann, durchaus eine wirkungsvolle dramaturgische Steigerung.

Gerade dort, wo Wilhelmshaven sich in den letzten Jahren vorbildlich herausgeputzt hat, an einem Ort, der sich mit den Namen unter anderem eines verblichenen, französischen Königshauses schmückt, trieben die 19 jungen Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Protagonistin in freiem Fall ins gesellschaftliche Abseits, ins materielle Elend, den persönlichen Abgrund.

In der Figur der Eva konzentrieren sie beispielhaft und verstörend drastisch die Schattenseiten und feuchten Winkel der Wohlstandsgesellschaft. Eine gute Idee, die Rolle der Eva auf vier Mädchen zu verteilen. Eva ist eben kein Einzelfall, der sich mit einem Achselzucken am Fußabtreter der heilen Welt von den Sohlen bürsten läßt. Sie steht für viele tausend Kinder, die abhauen von zu Hause - vom Regen in die Traufe.

20 alte Ölfässer waren Kulisse, Requisiten und Instrumente zugleich. Der schweißtreibende Beat der Großstadt hallte, schepperte, donnerte über den friedlichen Platz, aufregend und inhuman. Es waren die pochenden Herzen der Straßenkinder zwischen selbstgewählter Freiheit und purem Überleben in einer schnöden Welt. Mit der Kompetenz des eisernen Besens tönte zur Antwort der dumpfe Klang „braver" Bürger und staatlicher Wegschließ- und Verwahrbürokraten.

Mit geschickt inszenierter Dringlichkeit schleuderte die Geschichte dem geforderten Tribut entgegen. Kein dunkler Zuschauerraum, keine unsichtbare Wand schützte das Publikum. Da wurde gebettelt und geheult, wurden Kinder gesucht und Dealer abgeführt, und ein jeder konnte die plumpen Sprüche abspulen, mit denen man im richtigen Leben auf diese Kratzer im schönen Schein reagiert.

Freilich, um der schwierigen Spiel-Situation gerecht zu werden, geriet manche Szene arg an die Grenze bösartiger Parodie und drohte damit, sich selbst zu kompromittieren: der prügelnde Vater, die blöden und selbstsüchtigen Polizisten, die Psychologen als Vollstrecker im Horror-Heim.

Die unbeirrbare Motivation der Jugendlichen ist dafür bei Berufsschauspielern sichei nur in Ausnahme-Fällen zu finden. Eine „normale" Produktion wäre den ungünstigen Bedingungen zweifellos zum Opfer gefallen.

Ein besonderes Lob für die standhafte Leistung war das große Publikumsinteresse. Ob gut beschirmt oder schlecht behütet, über 100 Menschen verfolgen gefesselt die einstündige Produktion bis zum bitteren Ende. Und das kam dann im Schein flackernder Grablampen nüchtern und besinnlich und damit besonders unbequem.

Kunst, die manche Passanten gewiß provoziert, weil sie etwas zu sagen hat. Das soll in abgebrühten Zeiten etwas heißen. Man darf gespannt sein auf die Studio-Fassung des Stücks die im kommenden Herbst herauskommt.


JEVERSCHES WOCHENBLATT vom 14. Juli 1998

Wenn Kinder in der Gosse landen

Packendes Open-air-Theater des Jugendclubs der Landesnühne / Weitere Aufführungen

(ws) WILHELMSHAVEN
- „Toll, daß die Kids durchgehalten haben", freute sich Regisseur Frank Fuhrmann am Freitag abend nach der Open-air-Aufführung von „Straßenkids" auf dem Valoisplatz. Diesen Gedanken hegten sicherlich auch die zahlreichen Zuschauer, die tapfer im strömenden Regen ausharrend das neue Stück des Jugendclubs der Landesbühne ansahen. Die beeindruckenden Leistungen der 20 Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 22 Jahren trösten aber über die durchnäßten Jacken und Schuhe hinweg. Denn von der ersten bis zur letzten Minute überzeugten die jungen Darsteller das Publikum durch ihr dramatisches, mitreißendes und zugleich zum Nachdenken anregendes Spiel. Begeisterung erweckte auch die packende Musik unter der Leitung von Helge Grotelüschen.

In "Straßenkids" geht es um die Geschichte des Mädchens Eva, das infolge einer Verstrickung von negativen Umständen und Enttäuschungen im wahrsten Sinne des Wortes "in der Gosse" landet. Als kleines Kind von ihrem Vater mißhandelt, wächst sie allein bei ihrer Mutter auf. Mit dem sich bald darauf einstellenden Stiefvater und Stiefbruder kommt sie nicht klar. Ein beruflich bedingter Umzug nach Bayern verschlechtert die Situation. Als Eva an der neuen Schule Prügel bezieht, reagieren die (Stief-)Eltern mit Unverständnis. Der Elfjährigen platzt der Kragen. "Ich halt das nicht mehr aus, ich will raus, ich will frei sein", singt die erste von insgesamt vier Eva-Darsteilerinnen auch ohne Hilfe des Megaphons ihren verzweifelten Schrei nach Freiheit und Selbstbestimmung. Dann haut sie das erste Mal von zu Hause ab. Mit ausgestreckter Hand läuft sie ins Publikum: "Haste mal 'ne Mark für mich?"

Nach weiteren Ausreißversuchen landet Eva in der Jugendpsychiatrie. Sehr realistisch werden hier hysterische und aggressive Frauen dargestellt. Eva ist völlig verängstigt und greift zu ihrem Stofftier, einem Krokodil. Zusammen mit Andy, in den sie sich „bis über beide Ohren" verliebt, kann Eva aus der Psychiatrie flüchten. Wieder auf der Straße kommt aber bald die große Enttäuschung. „Ich dachte, ich könnte endlich einem Menschen vertrauen", schreit sie Andy an, als sie ihn mit einem anderen Mädchen erwischt. Zwei „nette Junkies" spritzen Evas Liebeskummer hinweg. „Immer locker bleiben", lautet die fragwürdige Devise. Evas Drogenkarriere spielt sich „im Schnelldurchlauf" vor den Augen der Zuschauer ab. Um die Sucht zu finanzieren, geht Eva auf den Strich. „Ich will raus aus dem Kreis", flüstert das Mädchen zitternd vor Entzugserscheinungen. Den Ausweg sucht und findet sie im Tod.

Die Geschichte von Eva ist ein Konzentrat aus authentischen Schicksalen von Straßenkids. In Deutschland leben mehrere tausend Jugendliche völlig losgelöst von der Familie und fast ohne soziale Betreuung auf der Straße. Für diese jungen Menschen fand nach der Aufführung, die kostenlos war, eine Spendensammlung statt.

Faszinierend waren während der Aufführung die ohrenbetäubenden, sich steigernden Rhythmen, die mit Sticks auf graffitibemalten Tonnen erzeugt wurden. Die Musik unter der Leitung von Helge Grotelüschen aus Berlin brachte von Beginn an Dynamik und Spannung ins Spiel. Die in jeder Szene neu gerollten, gestapelten und geworfenen Tonnen machten zusammen mit denen auf ihnen erzeugten Schlägen die besondere Note des Open-air-Theaters aus.

Die Darsteller in "Straßenkids" arbeiten erst seit September des letzten Jahres als Gruppe zusammen, so die Auskunft des Regisseurs Frank Fuhrmann. Einige von ihnen hatten noch gar keine Theatererfahrung. Um so erstaunlicher ist das Ergebnis, von dem sich alle Interessierten noch am Donnerstag, den 16. und am Freitag, den 17. Juli jeweils um 21.30 Uhr auf dein Valoispiatz überzeugen können.


Termine

01. Freitag, 10.07.1998, 21.30 Uhr, Valoisplatz Wilhelmshaven
02. Samstag, 11.07.1998, 21.30 Uhr, Valoisplatz Wilhelmshaven
03. Donnerstag, 16.07.1998, 21.30 Uhr, Valoisplatz Wilhelmshaven
04. Freitag, 17.07.1998, 21.30 Uhr, Valoisplatz Wilhelmshaven

zurück